Der Strafprozess in Portugal.
Der Strafprozess in Portugal unterscheidet sich von der deutschen Rechtslage in verschiedener Hinsicht. Rechtsanwalt und Advogado Dr. Alexander Rathenau erläutert die rechtlichen Grundlagen.
Zu den wichtigsten Verfahrensgrundsätzen des portugiesischen Strafprozesses zählen der Amtsermittlungsgrundsatz, das Legalitätsprinzip, das Recht auf Beistand eines Verteidigers bei jeder Verfahrenshandlung, der Anklagegrundsatz, der Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens und der Grundsatz der Unschuldsvermutung. Diese Grundsätze sind der Verfassung festgeschrieben.
1. Verfahrensablauf
Der portugiesische Strafprozess unterteilt sich in zwei Hauptstadien: Vorbereitungsstadium und Verhandlungsstadium. Das Vorbereitungsstadium dient der Tat- und Täterermittlung. Es setzt sich aus dem Ermittlungsverfahren (fase de inquérito) und dem – nicht zwingenden – richterlichen Untersuchungsverfahren (fase de instrução) zusammen.
a) Ermittlungsverfahren (fase de inquérito)
Das Ermittlungsverfahren wird durch die Staatsanwaltschaft (Ministério Público) geleitet, die sich der Polizei als Helfer bedient. Dabei hat sie nicht nur die zur Belastung, sondern auch die zur Entlastung dienenden Umstände zu ermitteln. Es ist zwischen Offizialdelikten (crimes públicos), Anzeigedelikten (crimes semi-públicos) und Antragsdelikten (crimes particulares) zu unterscheiden. Offizialdelikte werden von Amts wegen verfolgt. Anzeigedelikte hingegen nur nach erfolgter Strafanzeige. Antragsdelikte werden hingegen nur verfolgt, wenn Strafanzeige gestellt wurde, das Opfer sich als Strafkläger (dazu unten) bestellt und Privatklage erhoben hat.
Die Vornahme bestimmter Maßnahmen im Ermittlungsverfahren werden entweder unmittelbar durch den Ermittlungsrichter (juiz de instrução) vorgenommen oder setzen einen Anordnungsbeschluss des Ermittlungsrichters voraus. Zu den Handlungen, die der Richter selbst vornimmt, gehören z.B. die erste gerichtliche Vernehmung des Beschuldigten, die Anordnung der Untersuchungshaft und die Durchsuchung einer Arztpraxis. Lediglich angeordnet werden z.B. die Telefon- und Emailüberwachung und die Erstellung eines psychologischen Gutachtens gegen den Willen des Betroffenen. Regelmäßig wird das Ermittlungsverfahren auf Antrag der Staatsanwaltschaft vom Ermittlungsrichter als geheim (segredo de justica) eingestuft, wenn es im Interesse der Untersuchung oder zur Schonung eines Beteiligten geboten ist. Das Ermittlungsverfahren ist grundsätzlich innerhalb einer Frist von 8 Monaten abzuschließen. Nach Abschluss des Ermittlungsverfahrens muss die Staatsanwaltschaft entscheiden, ob sie das Verfahren einstellt (arquivamento), öffentliche Klage erhebt (acusação), das Verfahren im Falle des Absehens von Strafe einstellt, das Verfahren vorläufig aussetzt oder auf den Privatklageweg verweist. Liegt ein hinreichender Tatverdacht vor, wird öffentliche Klage erhoben. Ein hinreichender Tatverdacht liegt vor, wenn genügend Indizien vorliegen, die es wahrscheinlich machen, dass der Beschuldigte später verurteilt wird. Handelt es sich um ein Antragsdelikt führt die Staatsanwaltschaft zwar die Ermittlungen durch, überlässt jedoch dem Strafkläger die Entscheidung über die Erhebung der Privatklage.
b) Richterliches Untersuchungsverfahren (fase de instrução)
Zwischen Klageerhebung bzw. Verfahrenseinstellung und Hauptverhandlung kann das fakultative richterliche Untersuchungsverfahren stattfinden. Dieses Zwischenverfahren kann innerhalb einer Frist von 20 Tagen entweder vom Angeschuldigten oder vom Strafkläger in Bezug auf die Tatsachen, hinsichtlich derer die Staatanwaltschaft keine Klage erhoben hat, beantragt werden. Vor dem Richter wird eine kontradiktorische Untersuchungsdebatte (debate instrutório) geführt, an der der Beschuldigte, sein Verteidiger, die Staatsanwaltschaft, der Strafkläger und dessen Anwalt teilnehmen können. In der Debatte soll richterlich geklärt werden, ob tatsächlich ein hinreichender Tatverdacht vorliegt bzw. ob die Voraussetzungen einer Verfahrenseinstellung vorlagen. Die Debatte kann als „kleine Gerichtsverhandlung“ bezeichnet werden. Das richterliche Untersuchungsverfahren soll grundsätzlich innerhalb von vier Monaten abgeschlossen werden. Das Verfahren endet mit einem richterlichen Beschluss. Entweder wird das Hauptverfahren gegen den Beschuldigten eröffnet (despacho de pronúncia) oder nicht (despacho de não pronúncia). Der despacho de pronúncia stellt eine richterliche Anklage dar, die den Inhalt der Anklage der Staatsanwaltschaft nicht in wesentlichen Punkten ändern darf. Eine deutsche Entsprechung zu diesem Verfahren gibt es nicht.
2. Am Strafverfahren Beteiligte
a) Gericht (Tribunal)
Wie in Deutschland gehören die Strafgerichte zur ordentlichen Gerichtsbarkeit. Es gibt drei Instanzen: Amtsgerichte, Berufungsgerichte und der Oberste Gerichtshof.
b) Staatsanwaltschaft (Ministério Público)
Die Staatsanwaltschaft ist die von den Gerichten unabhängige Ermittlungsbehörde. Sie gehört der Exekutive an. Aufgrund des Gebotes der Gewaltenteilung ist kritikwürdig, dass die Staatsanwaltschaft in Portugal bei den Gerichten angesiedelt ist und quasi mit den Richtern die Räumlichkeiten teilt.
c) Beschuldigter (arguido)
Beschuldigter ist derjenige gegen den es Indizien gibt, dass er eine Straftat begangen, an einer Straftat teilgenommen oder sich auf eine Straftat vorbereitet hat. Der Beschuldigte wird im gesamten Verfahren als solcher bezeichnet. In Deutschland wird hingegen begrifflich zwischen Beschuldigter (vor der Anklage) und Angeklagter (nach der Anklage bzw. Eröffnung des Hauptverfahrens) unterschieden. Dem Beschuldigten stehen besondere Rechte zu, wie z.B. das Recht zu Schweigen.
d) Verteidiger (defensor)
Der Strafverteidiger muss Rechtsanwalt (advogado) sein. Der Verteidiger ist Beistand und Vertreter des Beschuldigten.
e) Strafkläger (assistente)
Das Opfer der Straftat kann in der Regel als Strafkläger am Strafverfahren aktiv teilnehmen. Im Fall eines Antragsdeliktes muss der Verletzte sogar Privatklage als Strafkläger erheben. Die Bestellung als Strafkläger muss bei Gericht beantragt werden. Der Strafkläger kann Beweise beantragen und Rechtsmittel einlegen. Strafkläger müssen zwingend durch einen Rechtsanwalt vertreten werden. Einen Strafkläger wie in Portugal kennt das deutsche Recht nicht.
f) Zivilrechtliche Parteien (partes civis)
Der Geschädigte (lesado), bei dem aufgrund der Straftat ein zivilrechtlicher Schadensersatzanspruch entstanden ist, muss diesen regelmäßig bereits im Strafverfahren geltend machen. Nach dem sog. Adhäsionsprinzip ist die Geltendmachung im Strafverfahren zwingend. Das kennt das deutsche Recht nicht.